Die Psychologie der Inflation: eine ganzheitliche Perspektive (8/2008)
Das Thema Inflation ist besonders seit dem Jahr 2007 in aller Munde, da sich die Preise auf breiter Front immer schneller nach oben bewegen. Zwischen dem theoretischen Wissen der meisten Menschen, was Inflation ist, und der praktischen Umsetzung im täglichen Leben, klafft jedoch eine riesengroße Lücke.
Beginnen wir mit dem Fremdwort "Inflation" (im Sinne von steigenden Konsumentenpreisen verstanden), das deutschsprachige Pendant ist das viel aufschlußreichere Wort "Geldentwertung". Das Wesen der Inflation ist, daß das Geld weniger wert wird (Ursache) und als Folge dessen steigen die Preise (Symptom). Man könnte diesen Sachverhalte auch noch so formulieren: die Quantität des Geldes steigt, während die Qualität sinkt.
Dies wird erstaunlicherweise kaum in der vollen Tragweite vom Durchschnittsbürger rezipiert: in einem interessanten Experiment wurden die Versuchsteilnehmer befragt, ob sie eine Lohnkürzung von 2% (bei nicht existenter Inflation) für fair halten. Die Antwort war natürlich nein, jedoch genügte schon eine kleinere Veränderung in der Fragestellung, um das Gefühl von Fairneß zu erzeugen: eine Lohnerhöhung von 2% bei einer gleichzeitigen Inflation von 4% wurde nämlich als ok beurteilt, obwohl dies auf dieselbe Lohnkürzung von 2% hinausläuft.
Nicht nur im Labor sehen wir mangelndes Verständnis für das Wesen der Inflation, sondern auch im alltäglichen Leben: so werden selbst viele langfristigeLangfristig bezieht sich auf einen Zeithorizont von Jahren. Verträge ohne eine explizite Berücksichtigung der Inflation abgeschlossen. Ein repräsentatives Beispiel aus eigener Erfahrung ist, daß meine Vermieterin sich zwar über die monatlich anfallenden Zahlungsverkehrsgebühren beim Mietdauerauftrag von 10 Cent beschwerte, jedoch eine auf 10 Jahre gleichbleibende Miete im Vertrag verankerte, was in Inflationszeiten wie diesen fast einer realen Miethalbierung gleichkommt.
Warum aber fällt es sogar intelligenten und gebildeten Menschen (selbst im Finanzbereich) so schwer, die Inflation angemessen zu berücksichtigen? Unser globales Papiergeldsystem seit 1971 produziert fast unausweichlich Inflation, weil Geld permanent aus dem nichts geschöpft wird, d.h. die Quantität des Geldes nimmt fast immer zu. Dies ist eigentlich ein Anachronismus der Sonderklasse, denn Geld kann damit seine Rolle als objektiver und verläßlicher Maßstab ökonomischer Vorgänge und "Schmiermittel" der Wirtschaft nur mehr bedingt erfüllen. Überall sonst im Leben ändern sich die Maßeinheiten nicht, es wäre unvorstellbar, wenn zum Beispiel die Länge eines Meters jedes Jahr verändert wird oder ein Watt jedes Jahr anders festgelegt wird. Nur beim Geld ist alles anders: ein Dollar des Jahres 2008 ist überhaupt nicht mehr zu vergleichen mit dem Dollar des Jahres 1913 (Gründung der Federal Reserve), selbst der Euro vom 1.1.1999 ist kaum mehr mit dem Euro 2008 zu vergleichen.
Mit anderen Worten: die Regeln, die überall sonst im Leben gelten, gelten in einem Papiergeldsystem nicht. Die Angabe einer Währungseinheit ist ohne Angabe eines ungefähren Datums fast ohne Aussagekraft. Das ist nicht leicht zu "verkraften" und erklärt, warum es nicht nur dem gemeinen Bürger, sondern sogar vielen Finanzprofis schwer fällt, die überragende Bedeutung der Inflation richtig einzuschätzen.
Während es für Trader in der Regel ausreichend ist, sich auf die nominelle Entwicklung von Finanzwerten zu konzentrieren, muß der langfristigeLangfristig bezieht sich auf einen Zeithorizont von Jahren. Investor primär die reale Entwicklung der Depotwerte im Auge behalten (was allerdings zuwenige wenige ernsthaft tun).
Beispiel: die US-Aktienmärkte gemessen am S&P 500-Index befanden sich von 2003 bis Ende 2007 in einer Hausse. Der Durchschnittsinvestor ist meist damit zufrieden, daß sein Depot am Jahresende nominell etwas mehr wert ist als am Jahresbeginn. Wenn wir jedoch die reale Indexentwicklung mithilfe der Inflationsdaten von John Williams korrigieren, dann müssen wir feststellen, daß wir seit dem Allzeithoch Anfang 2000 abgesehen von einer kurzen Unterbrechung (März 2003 - Januar 2004) die ganze Zeit in einer Baisse waren! Als im Herbst 2007 neue Indexhochs gefeiert wurden, war der Index inflationsbereinigt immer noch ungefähr die Hälfte unter dem Hoch des März 2000.
Selbstredend kann es für keinen Investor eine sinnvolle Zielsetzung sein, daß sein Depot inflationsbereinigt jedes Jahr an Wert verliert. Damit kommen wir schon zu einem prinzipiellen Thema: wenn das Geld permanent weniger wert wird, dann hat man eigentlich nur zwei Wahlmöglichkeiten, um nicht zu verlieren: entweder das Geld rasch zu konsumieren (schafft Konsumdruck) oder den Wert der Ersparnisse zu vermehren oder zumindestens zu halten durch Finanztransaktionen (schafft Renditedruck). Ich möchte beide Formen genauer diskutieren:
- Renditedruck: das Streben nach Gewinnen ist zwar im Prinzip positiv, doch die inflationsbedingte dramatische Zuspitzung des Renditedrucks hat viele negative Folgen. Eine negative Konsequenz ist, daß die Marktteilnehmer erwarten, daß ihre Depotwerte pausenlos steigen, weswegen der den Unternehmen von den Finanzmärkten aufoktroyierte Zeithorizont immer kürzer wird. Eine Konsequenz ist das langfristigLangfristig bezieht sich auf einen Zeithorizont von Jahren. höchst schädliche ganz kurzfristige Quartalsdenken, wo sich das Management nur um die nächsten Quartalszahlen kümmert, die langfristigen Aussichten jedoch vernachlässigt. Das schlimmste, was dem Management beim Versagen passiert, ist ein mit Millionen versüßter Golden Handshake, eine wirklich schlimme Strafe.
Wenn ein Unternehmen die Belegschaft erheblich reduziert, wird das von der Börse nicht selten gefeiert, obwohl das ganz sicher höchst negative Auswirkungen auf die Motivation und damit die Produktivität der restlichen Mitarbeiter hat. Wenn ein Unternehmen die Mitarbeiter nur als Kostenfaktor betrachtet, braucht man sich nicht wundern, wenn viele davon innerlich kündigen.
Eine andere höchst negative Auswirkung ist, daß der Renditedruck das Eingehen immer höherer Risiken forciert und dies ist auch der Link zur aktuellen Krise im Finanzsektor seit 2007. Das Grundproblem ist, daß viele Finanzinstitute irrsinnig gehebelt sind, zu Recht spricht Warren Buffett in diesem Zusammenhang von "finanziellen Massenvernichtungswaffen". Mit dem hier beschriebenen Hintergrundwissen ist jedoch, daß diese Unternehmen nur Erfüllungsgehilfen eines Systems mit sehr hohem Renditedruck sind.
Auf der sozialen Ebene bewirkt Papiergeld, daß sich das Einkommensgefälle zwischen Arm und Reich immer mehr ausweitet, was natürlich zu sozialen Spannungen, Kriminalität und höheren Sozialausgaben des Staates führt. Niedrige Inflation wirkt zwar eine Zeit lang systemstabilisierend (solange die Wirtschaftsakteure dies noch nicht richtig bemerken), bei höherer Inflation und auf lange Sicht sind die Nachteile jedoch evident.
Schon Adam Smith erkannte, daß Papiergeld (und damit Inflation) jene begünstigt, die mit Geld umgehen können, auf Kosten der arbeitenden Klasse (ich verwende hier Papiergeld und Inflation fast synonym, weil ein Fiat Money System fast unweigerlich zur Inflation führt). Auf makro-ökomischer Ebene ist eine Konsequenz, daß der Finanzsektor widernatürlich aufgebläht wird: eigentlich sollte die Wirtschaft dem materiellen Überleben und Wohlbefinden des Menschen dienen und die Finanzmärkte sollten der Wirtschaft dienen. Heute jedoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es der primäre Zweck von Unternehmen ist, möglichst fette Renditen zu erwirtschaften und den Aktienkurs höher zu trieben, sodaß der Mensch bloß noch als lästiger Kostenfaktor in Erscheinung tritt. - Konsumdruck: Die zweite Möglichkeit, um der permanenten Geldentwertung ein Schnippchen zu schlagen, ist, möglichst viel und schnell zu konsumieren, doch dieser Zusammenhang wird erst in Hyperinflationen für jeden sichtbar. Von der Weimarer HyperinflationHyperinflation ist Inflation, die völlig aus dem Ruder gerät. Globale Hyperinflation im weiteren Sinne definiere ich als einen Anstieg der $-Inflation auf ein neues Allzeitzeithoch bei 20-30% pro Jahr, Hyperinflation im engeren Sinne ist 20-30% Inflation im Monat. 1923 etwa wissen wir, daß die Hausfrauen ungeduldig das Eintreffen des Geldbriefträgers erwarteten, um mit dem Geld sofort ins Geschäft zu stürmen, bevor es an Wert verlor.
Wer konsumiert, kann nicht sparen, sodaß sich eine sorglose Konsummentalität entwickelt und die Bereitschaft zu langfristigen Investitionen (die Konsumverzicht erfordern) sinkt. Am extremsten ist dies natürlich in den USA, wo der private Konsum einen viel höheren Anteil des Bruttoinlandsprodukts einnimmt als in anderen Ländern.
Das grundsätzliche oben erwähnte Charakteristikum von Inflation ist, daß die Quantität auf Kosten der Qualität wächst und diese Tendenz sehen wir auf anderen Ebenen genauso. Der Konsumdruck führt dazu, daß zwar immer mehr Waren produziert werden, deren Qualität jedoch häufig sinkt. Untersuchungen von Lebensmitteln etwa zeigen, daß der Gehalt an Vitaminen und Mineralstoffen von Obst und Gemüse laufend abnimmt, sodaß wir im Zeitalter des Junk Food Schnitt gleichzeitig eine Über- und Mangelernährung haben (zuviel Quantität, zuwenig Qualität). Gleiches gilt für die Medienwelt: wir haben jetzt zwar Hunderte Fernsehkanäle zur Auswahl, deren Qualität erreicht jedoch laufend neue "Allzeittiefs". Auf der Ebene des Sports kommt der hehre olympische Gedanke immer mehr ins Hintertreffen, statt dessen dreht sich alles nur mehr darum, möglichst viel Geld zu lukrieren, auch unter Einsatz von illegalen und nicht selten die Gesundheit des Sportlers gefährdenden Dopingmitteln. Diese Liste der Entwertung ließe sich noch auf andere Ebenen ausdehnen, doch ich glaube die Essenz ist damit angedeutet.
Laut Williams war die Inflation der US-Leitwährung 2% im Jahr 1986, seither stieg sie stetig an auf mittlerweile +12%, weswegen sowohl Konsumdruck als auch Renditedruck global gesehen stetig zunehmen (obwohl die Dynamik in Europa abgeschwächt ist). Dies erklärt auch die Verschuldung der (US-) Konsumenten: gute Schuldner zahlen weniger Kreditzinsen als die tatsächliche Inflation, insofern ist das Aufnehmen eines Kredits in Zeiten mit hoher Inflation und niedrigen Zinsen eine durchaus rationale Strategie.
Die Conclusio dieses Artikels ist, daß das Verstehen und Berücksichtigen der Psychologie der Inflation zentral ist in der aktuellen Zeit, ganz besonders natürlich für den Investor und Trader.